Gastbeitrag von Ewald Eden / Der Regensburger Ludwig.…

Gastbeitrag

von

Ewald Eden 

 

Der Regensburger Ludwig.…

 

So schmutziggrau wie die zerstörte Umgebung rings um den erbärmlichen Unterstand in dem Ruinenfeld von Stalingrad ist auch der russische Himmel an diesem Morgen des 29sten Januar 43.

Die Stalinorgeln des Gegners sind vor wenigen Minuten verstummt. Von Anbruch der Dunkelheit bis zum Grauen des neuen Tages spielen sie seit Tagen – oder sind es schon Wochen – Nacht für Nacht die gleiche Melodie. Kaum hat das Pfeifen mit dem kurz darauf folgenden Krachen der Einschläge von Osten her aufgehört, setzt es aufs Neue von Süden her ein, um dann nach Westen und Norden weiterzuwandern.

Die rote Artillerie zeichnet so Nacht für Nacht ein schauriges Bild der Windrose in die Köpfe der wenigen die übrig geblieben sind von den Vielen die ausgeschickt wurden, um Raum für das eigene Volk zu erobern. Die kümmerlichen Reste einer einst stattlichen Armee – ausharrend im Kessel und bangend was da kommt.

Für sie gibt es kein Vorwärts mehr – und schon gar kein zurück. Es gibt nur noch warten auf die Besiegelung der Niederlage und bangen, was dann kommt. Die Prediger des Endsieges haben sich rechtzeitig abgesetzt, oder sie sind in der klirrenden Kälte und angesichts der gefallenen Kameraden verstummt.

Jede der graugesichtigen Gestalten in den vor Dreck starrenden Uniformen sehnt jede Nacht diesen Moment herbei, wenn der Gefechtslärm um sie her von einer Minute auf die andere abbricht. Dann können sie für ein paar Augenblicke versuchen, der Kälte zu trotzen die ihre Glieder immer länger gefangen hält. Wie lange hat sie schon kein Nachschub mehr erreicht?

Zwei Wochen? Drei Wochen?

Die Zeit verschwimmt in der Erinnerung zu einem trüben Brei mit steinharten eisigen Brocken, wenn ihre ‚eiserne Ration’ in immer kleinere Portionen zerfällt. Die Zeit gefriert zu einem blutigen Klotz, wenn irgendwo ein kleines Fünkchen Freude aufblitzt über herrenlos gewordene Nahrungsreste gefallener Kameraden.

Einzig der ‚Leutnant’ mit seinen über Nacht ergrauten Haaren – alle Kameraden nannten den stillen Ludwig mit der Hornbrille aus den Regensburger Auen nur ‚Herr Leutnant’ – ließ nie auch nur ein Wort der Kritik hören wenn mal wieder einem von seinen Leuten die ‚Zivilisation’ abhandengekommen war.

Obwohl auf seiner Uniform schon lange keine Rangabzeichen mehr auszumachen waren, hatte er nicht den Respekt und die Achtung der ihm Anvertrauten verloren.

Als einer der ältesten Kameraden in dem zusammengewürfelten Haufen nahm er an diesem Morgen seine an einer Seite leicht lädierte Brille ab, bevor er den beiden Jüngsten unter ihnen, die in ihrer schäbigen Sommeruniform vor Kälte – oder war es aus Angst vor den kommenden Ereignissen – vor sich hin zitterten, seine Arme um die Schultern legte.

Wie ein Vater, der seine Söhne beschützen will, schießt es Josef, dem altgedienten Feldwebel aus dem hannoverschen Göttingen, durch den Kopf.

Und bevor der Josef den Gedanken in seinem halberfrorenen Hirn wieder ausgelöscht hat, tönt in die Friedhofsstille über dem rauchenden Schlachtfeld mit den unzähligen Granattrichtern und den zahllosen zerstörten Häusern die etwas kratzige, aber trotzdem wie das Gesumme friedlicher Hummeln klingende, Stimme des Leutnants. Der Ludwig berichtet von lauen Frühlingstagen an den Ufern der bayrischen Flüsse und Seen, von duftendem Ginster und blühendem wilden Mohn. Eine Strophe des Liedes vom Burschen, der sein Liebstes vermisst die singt er sogar.

Man kann den Gesichtern der lauschenden Kameraden ansehen, dass ihre Herzen ganz weit weg in der Heimat weilen. Für eine kurze Zeit haben sie das grausige Schlachtfeld und den unweigerlich drohenden Untergang vergessen. Für eine kurze Weile haben sie die klirrende Kälte und den nagenden Hunger aus ihrem Fühlen verbannt.

Für ein paar Traumminuten lang haben sie das Gelände um sich herum aus den Ohren verloren. Diese Minutenumläufe des Sekundenzeigers auf der tickenden Uhr des Schicksals haben den vorrückenden Rotarmisten genügt. Als das erbarmungswürdige Häuflein da unten im Keller von der Stippvisite in die Heimat zurückgekehrt ist, schauen sie ringsum in die drohenden Mündungslöcher mattschwarzer russischer Gewehrläufe.

Obwohl die ausdruckslosen Gesichter der Rotarmisten über den Gewehren regungslos zu ihnen hinabstarren, fällt kein einziger Schuß. Die Kameraden mit dem roten Stern am Stahlhelm helfen ihnen sogar fast freundschaftlich dabei aus dem Graben zu klettern.

Oben angekommen können sie ihnen doch wohl nicht ersparen mit erhobenen Händen vor den schussbereiten Gewehren herzumarschieren.

Als der Tag die Spitze seiner um diese Jahreszeit spärlichen Helle erreicht hat, befinden sie sich seit knapp einer Stunde auf einem ziemlich ebenen Feld am Rande eines Wäldchen in der Nähe einer trostlosen, scheinbar menschenleeren Siedlung, auf der sie die folgende und die darauf folgende Nacht unter freiem Himmel auf der blanken Erde zubringen.

Dadurch dass man ihnen alles – auch die persönlichen Gegenstände – weggenommen hat, haben sie auch keine Uhr mehr in ihrem Besitz, um wenigstens die Zeit verfolgen zu können.

‚Scheiß auf die Uhren’ sagt der Göttinger Josef schon fast fröhlich. ‚Hätten wir die etwa essen können?’ vollendet er seine ‚Ansprache an mein Volk’, wie er sagt, bevor er gierig in das in der kalten Kohlsuppe eingeweichte russische Steinbrot beißt.

Am dritten Tag ist die Lagerherrlichkeit vorbei. Eine endlos scheinende Schlange Feldgrau windet sich über den schmutzigen Schnee und durch tiefe Panzerfurchen in südöstliche Richtung. Das es nach Südosten geht wissen sie vom Leutnant. Der scheint irgendwie einen Draht zum Himmel zu haben.

Obwohl keiner der Gefangenen seinen Platz in der Kolonne verlassen darf, und obwohl er von den Essensrationen der letzten Tage nicht einmal die Hälfte für sich behielt, sondern sie an die Kameraden verteilte, die vor Entkräftung bald nicht mehr auf den Beinen stehen konnten, taucht er immer wieder mal hier und mal dort in der Kolonne auf, um dem einen oder anderen Mut zu machen. Niemand von den sie begleitenden Rotarmisten bemerkt es (oder WILL es nicht bemerken) – als ob der Regensburger Ludwig unsichtbar ist.

Nach einem endlos langen Marsch erreichte der Gefangenentroß das Sammellager Beketowka. Irgendeiner der ein wenig russisch konnte, hatte den Namen des Lagers als Latrinenparole in Umlauf gebracht.

In Beketowka verlief alles ungeordnet.

Die rote Generalität war auf so viele Plennys

in diesem Abschnitt nicht vorbereitet gewesen.

Es mangelte an allem, nur an einem nicht – an Krankheiten und Seuchen die sich, bei Menschen die unter solch katastrophalen Umständen leben müssen, rasend schnell breit machen.

Jeder versuchte so schnell wie möglich dieser Hölle von menschlichen Wracks zwischen flüssigen Exkrementen und Erbrochenem zu entfliehen.

Der Ludwig und der Göttinger Josef hatten das Glück.

Sie ergatterten für den Mittag des 13. März einen Platz innerhalb eines Transportes nach Wolsk. 300 Kilometer Bahnfahrt bei 40 Minusgraden im offenen Güterwagen. Für die meisten war es eine Reise in den Tod, der viele schon während der 7 Tage dauernden Fahrt dahinraffte.

Dem Leutnant Ludwig sollte nach dem Willen des Herrn wohl ein würdigerer Abschied von dieser Erde beschieden sein, als der, als Toter aus dem fahrenden Zug hinausgeworfen zu werden. Am 20. März in Wolsk angekommen ließ ihn der Herr noch mit Hilfe seines Kameraden sein ‚Golgatha’ besteigen, um ihn von der Höhe des Lagerhügels friedlich zu sich zu holen.

Gott war in diesem Moment seiner Seele gnädig.

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Ewald Eden

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